Drogen- und Gewaltexzesse in den Sumo-Schulen, abgesprochene Kämpfe, Yakuza-Mafia-Verstrickungen: Wenn man sich die Schlagzeilen der vergangenen Jahre anschaut, dann scheinen Japans gutmütige Ringer-Riesen eine schwere Identitätskrise durchzumachen.

Neue Ansprüche an sündige Superstars

Ohne dem Artikel gleich im zweiten Satz die Luft aus den Segeln nehmen zu wollen: Skandale gab es in Sumokreisen schon immer. Früher ebenso bekannt, meist aber nur belächelt, werden derlei Geschichten heute von der Boulevardpresse aufgeblasen und von ihrer Leserschaft rauf- und runterdiskutiert.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch waren die Ringer am Stadtrand in der Nähe der Burakumin-Siedlungen untergebracht, zusammen mit Gauklern, Prostituierten und all den gesellschaftlich Geächteten. In jenen Rotlichtvierteln waren die Riesen vor allem für ihre drei Laster bekannt: Glücksspiel, Trinken und die Hurerei.

Der wohl beliebteste Sumo aller Zeiten war gleichzeitig der skandalöseste: Raiden Tamaemon (1762-1825) galt als unbesiegbar, es sei denn er stieg noch betrunken vom Vorabend in den Ring. Seine Technik im Ring war brutal und aufbrausend. Trotz phänomenaler Siegesquote wurde er wegen seines Lebensstils – und der Verwicklung in einen Mord – nicht zum Yokuzuna (höchster Rang im Sumo, der gottgleiche Verehrung mit sich bringt)  ernannt. Eine öffentliche Diskussion über den Sittenverfall im Sumo gab es damals aber nicht. Vielmehr wurde Raiden durch exzessive Trinkgelage und seine Power dem männlichen Idealbild gerecht und von den Fans gefeiert.

 

Illegales Glücksspiel und gefixte Turniere

Ebenso regelmäßig gibt es Enthüllungsstorys, von abgesprochenen Kämpfen bei offiziellen Turnieren und Sumo, die  Verbindungen zur japanischen Mafia (Yakuza) halten. 2001 zum Beispiel verteidigte sich der Ringer Itai bei seiner Festnahme, drei Viertel aller Kämpfe seien gefixt, er habe einfach nur mitgespielt und sei sich keiner Schuld bewußt. Einen Riesenskandal gab es erst 2013: Da hatten einige Profi-Sumo per SMS Kämpfe abgesprochen. Als Folge daraus wurde eines der größten Turniere des Jahres abgesagt.

Abgesehen mal vom Maß der Manipulation dürfte der Umstand, dass sie gibt, eigentlich niemanden wundern, denn das Wetten auf Sumo-Kämpfe ist in Japan verboten und das bringt die Yakuza auf den Plan. Die japanische Mafia hat im illegalen Glücksspiel eine ihrer traditionellen Haupteinnahmequellen und versucht natürlich immer wieder, Einfluß auf den Ausgang der Turniere auszuüben.

Früher haben sich Syndikate und Sumo-Sportler noch viel offener näher gestanden. Ringer traten bei Schaukämpfen auf Volksfesten und in den Rotlichtvierteln auf – beides Geschäftsfelder, die traditionell unter der Kontrolle der Yakuza stehen. Dadurch wurde so mancher Gangsterboss zum Gönner seiner favorisierten Sumo-Schule. Es gibt alte Zeitungsberichte, nach denen Anfang des 20. Jahrhunderts die Ringer aus der Region um Osaka und Kyoto zu Turnieren in die Hauptstadt pilgerten. Einige der Sumôtôri aus Osaka sollen dabei die  Familienwappen der Verbrechersyndikate auf dem Körper tatowiert gehabt haben – wie Werbung auf einem Trikot.

 

Relikte der guten alten Zeit

So interessant die Sensationsgeschichten der heutigen Presse sein mögen – ihre Pendants in der Vergangenheit sind zahlreich und nicht weniger skandalträchtig. Woher kommt dann aber neuerdings der hohe Anspruch der Öffentlichkeit an die Sportskanonen? Wahrscheinlich, weil für viele Japaner der Sumo-Sport eines der letzten Relikte der guten alten Zeit ist. Gerade Nippons Ultrakonservative klammern sich da an eine idealisierte Unschuld, die die Sportart in dieser Form wahrscheinlich nie wirklich besessen hat. Um den Sinn hinter dem Treiben und damit die Bedeutung des Sportes für die Japaner zu begreifen, muss man sich intensiver mit der Landeskultur beschäftigen, denn Sumo ist nicht nur die älteste Sportart des Landes sondern auch Bestandteil von religiösen Ritualen und Festen. Die Verbindung von Kultur, Sport und Religion gibt es in dieser Form nur beim traditionellen japanischen Ringkampfsport.

 

Ringen um die Gunst der Götter

Entgegen der weit verbreiteten Meinung ist Sumo übrigens keine klassische Budô-Kampfsportart. Jene von den Samurai kultivierten Kampfkünste, zu denen auch Judô und Yu-Jutsu zählen, sind Disziplinen mit zenbuddhistischer Prägung und wurden erst seit dem 16. Jahrhundert fester Bestandteil japanischer Kultur. Sumo ist noch viel älter, älter noch als die ersten historischen Aufzeichnungen des Landes.

Schon in mythischer Vorzeit soll ein Bote der Sonnengöttin Amaterasu, dem damaligen Herrscher der Welt die Hoheit über die japanischen Inseln durch einen Sumo-Kampf abgerungen haben. Da jene Göttin die Urahnin der heute noch herrschenden Tennô-Familie gewesen sein soll, wurde bei diesem Ereignis der Grundstein für die enge Verknüpfung zwischen Sumo-Sport und der heute noch herrschenden Dynastie gelegt. Das urjapanische am Sumo ist zudem seine enge Bindung an Japans Urreligion, den Shintô-Kult. An Shinto-Schreinen wird bis heute der Sumo zur Feststellung von göttlichen Urteilen oder zur Unterhaltung der Götter bei Festen praktiziert. Auch der Profisport ist noch voller Ritualrudimente: Das Heraufreißen eines Beines und das kraftvolle Aufstampfen auf den Ringboden soll die Erdgeister vertreiben, das zweimalige Klatschen in die Hände die Aufmerksamkeit der Götter erwecken und in die Ecken geworfenes Salz soll den Ring rituell reinigen. Der Yokuzuna, der höchste Grad eines professionellen Sumo, entspricht rituell, körperlich und vom Herzen her dem shintoistischen Ideal der Reinheit. Der Profisport-Champion nimmt daher auch bei bestimmten Schreinritualen die zentrale Rolle ein.

Ein Mann wie ein Berg

Sumo-Ringer sind übrigens alles andere als verkultete Fettsäcke. Denn trotz ihrer Leibesfülle von nicht selten 230 Kilo sind die Sumôtôri muskelbepackte Hochleistungssportler. Ein durchschnittlicher Sumo hat nur einen Körperfettanteil von etwa 20 Prozent. Damit ist der Anteil angelagerten Fettes im Verhältnis zur Muskelmasse gemeint. Der liegt hierzulande bei 20-jährigen Männern bei etwa 18 Prozent, bei Frauen selbigen Alters bei 25 Prozent.

Die Ringer nehmen täglich Unmengen einer besonders kalorienreichen Mahlzeit (Chankonabe) zu sich – die restliche Zeit wird hart trainiert. Da ein Kampf nur gewonnen werden kann, indem der Gegner aus dem Ring gedrängt oder innerhalb dieses Rings zu Fall gebracht wird, ist Körpermasse natürlich von Vorteil. Ein massiver Schwerpunkt lässt sich nämlich nur mit extrem guter Technik aushebeln.

 

Essen, Trainieren, Dienen

Auch typisch japanisch am Sumo ist die Ausbildung. Den Aspiranten erwartet mit dem Eintritt in das Heya (Sumoschule) ein Weg voller Entbehrungen, Bevormundung und Demütigung, an dessen Ziel im besten Fall der Rang eines Yokuzuna erreicht wird – und damit nahezu göttliches Ansehen in der japanischen Bevölkerung. Die traditionellen Ringerschulen sind der einzige Weg in den professionellen Sumosport. Die Lernwilligen in einem Heya, entsagen dem Leben der Außenwelt und nehmen ihren Platz ganz unten in der Hierarchie der Sumo-Gesellschaft ein. Wie in vielen traditionell geprägten japanischen Organisationen, beispielsweise in Studentenverbindungen, der japanischen Mafia und früher auch in Großunternehmen, ersetzt die Institution die eigene Familie und der Gehorsam gegenüber Höherrangigen ist Gesetz. Die vor allem im Westen als fragwürdig kritisierte gängige Prügelstrafe nehmen die Schüler eines Heya offiziell gerne in Kauf da sie der schnelleren Weiterentwicklung zu Höchstleistungen förderlich sein soll.

 

Sumo-Sport in der Krise?

Der Anspruch an den Sumo ist so hoch, weil er urjapanisch ist. Die Fernsehaufzeichnungen von Sumo-Turnieren und die Aufmachung der Wettkampfhallen lassen den ursprünglichen Sinn solcher Veranstaltungen heute aber nur noch erahnen.  Die TV-Berichterstattung zeigt den rituellen Charakter so knapp und routiniert wie möglich, um mehr Werbung unterzubringen. Das Publikum trinkt Bier und isst dabei Snacks, genau wie im Baseball-Stadion. Sumo ist nicht in der Krise, aber die japanischen Werte verändern sich weiterhin in Rekordgeschwindigkeit. Und wie alles traditionell Japanische büßt dadurch auch der Ringsport in Teilen seine Erhabenheit ein. Hau-Ruck-Modernisierung um jeden Preis hat eben ihren Preis.

Sumo verankert unser Land in seiner Geschichte. Es ist das einzige, was uns wirklich noch geblieben ist, seit es kaum noch Geisha gibt, keiner unter 40 noch den Teeweg beherrscht und (Kaiser) Hirohito Tennô den Götterstatus aufgegeben hat. (Japan Times)


Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Anonymous

    Danke sehr an den Autor.

    Gruss Elena

Kommentare sind geschlossen.